In dem Bulletin Nr. 26 des Instituts für Jugend und Gesellschaft sind mehrere empfehlenswerte Beiträge erschienen. Írisz Sipos erörtert in ihrem Aufsatz „Coming-out im Lockdown: ein Paradigmenwechsel“ Martin Grabes Buch: Homosexualität und christlicher Glaube ausführlich (S. 4–20) und nimmt dabei durchaus auch das „konservative Lager“ innerhalb der Evangelikalen Bewegung in die Pflicht. Sie überzeugt mich, wenn sie darauf hinweist, dass die neuen Diskurse im Grunde widerspiegeln, was uns Menschen schon immer beschäftigt hat. Anstatt uns von den inneren Trieben ungezähmt bestimmen zu lassen, sollten wir die revolutionäre uns im Evangelium zugesprochene Hoffnung ernst nehmen. Sie schreibt (S. 15):
Die sexualethischen Diskurse, die mit konstruktivistischen Gender- und Queerperspektiven angereichert die evangelikalen Gemüter erregen, sind weder neu noch originell. Sie ventilieren die alten Fragen, Ängste und Sehnsüchte des Menschen um Fruchtbarkeit, Liebe, Ehe, Sex, Moral und Macht. In deren Dickicht von kleinmütigen Kompromissen und enthemmtem Größenwahn schlägt das biblische Zeugnis mit den Geschichten der Väter und Mütter des Glaubens sowie den Lebensregeln des alten und des neuen Bundes eine Schneise der lebendigen Hoffnung und der Verheißung von Frieden und Fülle. Dieses Zeugnis dürfen wir neu hören und vernehmen lernen, wie schon Israel am Sinai und die Gemeinde in Rom. Nicht als Verwalter tradierter Gewissheiten und abgehangener Idealbilder unserer selbst, sondern als ernstlich Fragende und Suchende, die sich der erbarmungswürdigen Realität der eigenen Existenz bewusst sind.
Angesichts der realen Nöte und der seelischen wie spirituellen Verwahrlosung unserer Gattung erscheint es alles andere als trivial, dass die Menschheit aus „Männern“ und „Frauen“ besteht, und dass Männer Frauen und Frauen Männer begehren, oder dass ein Mann nur eine Frau zu begehren hat und sie sogar liebt – und umgekehrt. Es versteht sich nicht von selbst, dass überhaupt jemand jemanden liebt; es ist vielmehr ein Wunder, ein Mysterium, oder zumindest ein unverdientes Geschenk.
Trivial hingegen ist, dass der Homo sapiens, ausgestattet mit Sexualtrieb und einer schier grenzenlosen Phantasie, ihn zu realisieren, frustriert zur Kenntnis nehmen muss, dass seine Libido nicht allein durch seine verwundbare, beschämbare, letztlich dem Tod anheimgegebene Physis begrenzt wird, sondern auch von einem menschlichen Umfeld voller Ambivalenzen und Antagonismen.
Erhellend und analytisch wertvoll ist ebenfalls der Beitrag „Die Macht, das Subjekt und das Sexualdispositiv: Michel Foucaults Diskurs der Gegenaufklärung“ von Silke Edelmann (S. 21–31). Dort ist im „Fazit“ zu lesen:
Man könnte meinen, die Geschichte gäbe ihm Recht: Diejenigen, die sich auf ihn berufen, Foucaults Nachfolger, scheinen sich nicht nur im wissenschaftlichen Diskurs, sondern auch im politischen Alltag zunehmend durchzusetzen. Man könnte meinen, eine neue Episteme stehe vor der Tür. Foucaults Traum von einer Gesellschaft, in der der Einzelne sich seine Identität selber konstruieren kann und die Zweigeschlechtlichkeit keine Rolle mehr spielt, spiegelt sich in den Medien, der Politik und Zukunffstrends: „Innovation schlägt Tradition, das Geschlecht verliert das Schicksalhafte, die Zielgruppe an Verbindlichkeit. Noch nie hat die Tatsache, ob jemand als Mann oder Frau geboren wird und aufwächst, weniger darüber ausgesagt, wie Biografien verlaufen werden. Der Trend veränderter Rollenmuster und aufbrechender Geschlechterstereotype sorgt für einen radikalen Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft. Das starke Ich schlägt das alte Frau/Mann-Schema und schafft eine neue Kultur des Pluralismus.“
Die foucaultsche Denke manifestiert sich etwa in einer Bildungspolitik, die Kinder so früh wie möglich mit diversen sexuellen Empfindungen und Identitäten in Berührung bringt, damit sie als Erwachsene in der Lage sind, „die eigenen Lüste und die Lüste der anderen zur Erfindung einer neuen Sozialität zu benutzen“55. Das „Regenbogenportal“ des Bundesfamilienministeriums, bei dem sich junge Menschen darüber informieren können, dass „Geschlecht, Sexualität und Begehren auf vielfältige Weise gelebt werden, wird gesellschaftlich und politisch immer mehr anerkannt.“56 Und dass sich die Zweigeschlechtlichkeit nur durchsetzen konnte, weil zwar die Natur, nicht aber die Gesellschaft die Vielfalt mochte.
Auch Foucaults Feststellung, dass neue Episteme, wenn sie sich durchsetzen, alte zum Schweigen bringen, scheint sich zu bewahrheiten: gesellschaftspolitische Positionen, die vor wenigen Jahren noch selbstverständlich schienen, werden mit großer Vehemenz aus dem Diskurs gedrängt. Es gilt die Räume
der Auseinandersetzung, auch angesichts sich ideologisch verhärtender Fronten, im Glauben an Vernunft, Dialog und Werte, die konstruierte Episteme überdauern, offenzuhalten.
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